27.08.2024
Blick hinter die Kulissen
Alfred Wiedemann von der Redaktion Politik/Südwestumschau der Südwest Presse Ulm kam im Juni zur Recherchearbeit nach Stuttgart. Die Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Bereichen waren richtig gut.
Die Fragen eines Außenstehenden haben gezeigt, dass vieles, was wir tun, nicht selbstverständlich und selbsterklärend ist.

Auf Patrick Lubigs Schreibtisch liegen zwei Schwarzweißfotos, aus großer Höhe aufgenommen im Frühsommer 1945. Im Krieg und auch noch nach dem Ende haben sich Briten und Amerikaner ein genaues Bild gemacht, suchten Ziel für ihre Bomber, wollten wissen, was sie zerstört haben. Die Fotos auf dem Schreibtisch zeigen, was damals von Ulm noch übrig war. Das Münster steht nach den Bombenangriffen noch, fast alle Gebäude der Innenstadt liegen in Schutt und Asche. Es sind zwei verschiedene Bilder, zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommen. Ausgeleuchtet unter einem Apparat, in den man wie in ein Mikroskop hineinschaut. Das linke Auge blickt aufs linke, das rechte aufs rechte Foto. So entsteht aus zwei einfachen Bildern ein 3D-Effekt, plötzlich erheben sich Mauerreste, klaffen Bombenkrater.

Patrick Lubig am Stereoskopie-Gerät. Auf alten Luftbildern der Alliierten sucht er nach Hinweisen auf Bomben-Blindgänger im Boden.
Das Stereoskopie-Verfahren hilft, auf den Fotos zu erkennen, wo Bomben getroffen haben und wo noch Brand- oder Sprengbomben im Boden stecken könnten. Blindgänger sind auch nach 80 Jahren eine tödliche Gefahr, chemisch-mechanische Verzögerungszünder machen die Bomben sogar immer gefährlicher. Winzig kleine Punkte auf den Bildern können die tickenden Zeitbomben im Untergrund verraten.
Von der millionenfachen Bombenfracht, die US- und Royal-Air-Force über Hitlerdeutschland abgeworfen haben, sind geschätzt zehn bis 20 Prozent nicht explodiert, sagt Benedikt Herré, Lubigs Chef, Geschäftsführer der LBA Luftbildauswertung GmbH in Stuttgart. Viele der Blindgänger wurden nie geräumt. Immer wieder gibt es deswegen Alarm, werden Straßen gesperrt und Straßenzüge geräumt, wenn der Kampfmittelbeseitigungsdienst Bomben unschädlich machen muss. Wie Blindgänger entdeckt werden, macht dagegen kaum Schlagzeilen.

Die Arbeit geht nicht aus: Chef Benedikt Herré und Gabriela Rothmund-Gaul von der LBA GmbH in Stuttgart.
mmer wieder Blindgänger-Alarm
„Wenn ein Bauarbeiter erst mit der Baggerschaufel an einer Bombe kratzt, ist das hochgefährlich“, sagt Herré. „Besser, weil sicherer, ist, wenn der Baugrund vor den Arbeiten auf Kriegs-Überreste untersucht wird.“ Fliegerbomben, Blindgänger und Co. lokalisieren, Verdachtsfälle ausfindig machen, Empfehlungen geben für weitere Untersuchungen, das macht die LBA GmbH. Gut 30 Beschäftigte arbeiten in einem früheren Schulgebäude, nicht weit vom Feuersee in StuttgartWest. Was nach Militär und Geheimdienst klingt, ist ein ganz und gar ziviler Betrieb, Herré ist erst seit gut fünf Jahren Chef. Ein Freund hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass der vorige Besitzer altersbedingt aufhören möchte. Luftbildauswertung, das war für den Diplom-Ingenieur, der Architekt und Szenenbildner studiert hat und in der Filmbranche gut beschäftigt war, völlig neu. Aber es war spannend, es ist total abwechslungsreich, sagt Herré. „Und es bleibt spannend, die Arbeit geht uns auch nicht aus.“
„Anfragen kommen von allen, die Eingriffe in den Untergrund planen“, sagt Gabriela Rothmund-Gaul, promovierte Musikwissenschaftlerin und für die LBA-Kommunikation zuständig: Hochbau, Tiefbau, Straßenbau, Kommunen, die Wohngebiete oder Gewerbeparks planen, Unternehmen, die Leitungen verlegen wollen, Privatleute, die Sicherheit haben wollen, bevor die Bagger loslegen. Dabei kann es neben Kriegs-Überresten auch um Altlasten gehen, die möglicherweise im Boden lauern.
Keine Pflicht zur Baugrund-Erkundung
Solche Erkundungen des Baugrunds sind bisher nicht gesetzlich vorgeschrieben, mancherorts verlangen es die Kommunen aber. Kommt es aber zu einem Unfall mit Kampfmitteln und der Baugrund war nicht untersucht worden, drohen Verantwortlichen Geldstrafen oder sogar Haft.
Was eine Luftbildauswertung kostet, lässt sich nicht pauschal sagen, das komme auf Lage und Größe und den nötigen Aufwand an. „Wir schauen uns das an, beraten und machen ein Angebot“, sagt Herré. „Im Vergleich zu den Gesamtkosten eines Bauprojekts sind die Kosten für so ein Gutachten aber überschaubar.“
Viele der Luftbilder, die bei der LBA ausgewertet werden, hat das Unternehmen schon im eigenen Archiv, digitalisiert natürlich. Die Bandbreite der vertretenen Fächer ist groß unter den LBA-Beschäftigten: Geowissenschaftler, Ingenieure, Historiker sind vertreten, das breit gestreute Fachwissen wird gebraucht.

Suche in alten Texten: Historiker Mohamet Traore.
Ausdauer und ein gutes Auge für den Traumjob
Patrick Lubig, Teamleiter der Luftbildauswertung, ist studierter Geograph. Über eine Stellenanzeige ist er auf die Luftbildauswertung aufmerksam geworden – und hat seinen „Traumjob“ gefunden. „Dabei habe ich vorher gar nicht gewusst, dass es diesen Job gibt!“ Für den ist, neben dem Fachwissen als Geograph oder Geologe, auch Ausdauer, ein gutes Auge und viel Interesse an Geoinformationssystemen nötig, ganz wichtig sei auch die Teamarbeit.
Um mögliche belastete Zonen zu finden, werden nicht nur Luftbilder ausgewertet, sondern auch historische Truppenberichte, Ortschroniken, alles Schriftliche, was über Kampfhandlungen im Untersuchungsgebiet Auskunft geben kann. „Es reicht nicht, wenn die Oma sagt, bei uns im Dorf, da war nichts am Kriegsende“, sagt Herré. Erinnerungen können trügen.
Mohamet Traore ist studierter Historiker und einer der Fachleute, die bei der LBA für das Finden und Auswerten solcher Unterlagen zuständig ist. Auch er sagt, dass er seinen Traumjob gefunden hat. Wie Lubig sagt er das richtig begeistert. „Ich versinke manchmal richtig in den alten Beschreibungen der Kampfhandlungen, wie es damals Soldaten aufgeschrieben haben oder der Bürgermeister oder Pfarrer am Kriegsende“, sagt Traore, „da komme ich mir manchmal vor wie der Soldat James Ryan in dem berühmten Kriegs lm von Steven Spielberg.“ Wobei sich immer wieder auch das Leid in den Vordergrund dränge, das der Krieg gebracht habe. Natürlich denkt man da auch dran, sagt Traore. Aber mit ihrer Arbeit sorgen die Luftbildauswerter auch dafür, dass alte Blindgänger keine neuen Schäden anrichten.
Wenn das dann so gut klappt wie diesen April bei Rastatt, gibt es auch mal einen Anruf und ein Lob vom Kampfmittelbeseitigungsdienst Baden-Württemberg. Der wertet selbst auch Luftbilder aus, ist aber vor allem landesweit für das Unschädlichmachen von Bomben und Munition zuständig. Ein LBA-Gutachten, von der Straßenbaubehörde in Auftrag gegeben vor einer Fahrbahndeckenerneuerung, hatten einen Verdachtspunkt für einen Blindgänger aufgezeigt – auf zwei Meter genau, wie sich beim Bergen der 250-Kilo-Bombe ergab. „Das war echt gut“, lobten die Kampfmittelprofis.
Der Artikel samt Fotos von Alfred Wiedemann erschien wortgleich am 24. August 2024 in der Südwestpresse, Seite 6 Südwestumschau